teetrix hat geschrieben:PS: Sagte Karl Kraus in puncto Gedanken nicht: "... man muß auch unfähig sein, sie auszudrücken." ???
Dein Einwand hat natürlich eine gewisse Berechtigung – mir (und vielen anderen auch) war dieser Satz lange Zeit in der von dir zitierten Version geläufig. Die vollständige Textstelle liest sich aber tatsächlich so:
Das Berufsgeheimnis
Viele würden in Redaktionen rennen,
bedürfte es nicht die spezialste der Gaben.
Es genügt nicht, keinen Gedanken zu haben:
man muß ihn auch ausdrücken können.
(Karl Kraus, "Die Fackel", Heft 697, S. 60)
Das erklärt sich wahrscheinlich so, dass man über die Zeit beim Zitieren dieser Kraus-Stelle das Gefühl hatte, auch die letzte Zeile "brauche" eine Verneinung: also "keine Gedanken" (= verblödet) + "keine Sprachfähigkeit" (= unfähig, diesen Blödsinn in Worte zu gießen). Tatsächlich spielte K. K. hier wohl – wie sonst so oft – auf die österreichische/Wiener Presse an, an der er den oft virtuos-wortreich hingeschriebenen Schwachsinn geißelte. (Ob ihm angesichts der heutigen Situation etwas einfiele oder er darob verstummen würde ...?)
Tipps dazu:
Werner Welzig (Hg.) "(Karl Kraus:) Wörterbuch der Redensarten" (1999, vergriffen)
Werner Welzig (Hg.) "(Karl Kraus:) Schimpfwörterbuch" (3 Bde., 2008)
(beide Bücher herausgegeben im Zusammenhang mit dem Karl-Kraus-Forschungsgroßprojekt der Österreichischen Akademie der Wissenschaften / ÖAW)
Online-Tipp:
http://corpus1.aac.ac.at/fackel/: Seit einiger Zeit bietet die ÖAW hier eine Koplettausgabe der "Fackel" an – mit luxuriöser Volltextsuche und den Fundstellen wahlweise in Faksimileansicht und zeitgemäßer Übertragung. Man muss dafür aber einen (Gratis-)Account beantragen.
Die "Fackel" ist übrigens auch in Eisenbahn-Dingen eine Fundgrube. Einmal angemeldet, braucht man nur ein paar bahnrelevante Begriffe zur Suche eingeben ("Eisenbahn", "Lokomotive", "Staatsbahn", "Conducteur", "Schiene" etc.) und erhält die eine oder andere schöne Fundstelle (die – wenn auch vor einem Jahrhundert verfasst – einem irgendwie bekannt vorkommen mag ...).
Die Bahn des Verderbens.
Zahllose Zuschriften, die sich auf den in Nr. 51 enthaltenen
Klageruf eines Südbahnpassagiers beziehen, beweisen mir, dass die
Erregung über die zum Himmel, aber nicht bis zum Chlumecky
stinkende Misswirtschaft auf der Südbahn eine allgemeine
ist. Einem der Briefe entnehme ich die folgende Beschreibung:
»Gestern fuhren wir am Abend von Baden nach Wien. In einem
Waggon zweiter Classe sitzen zusammengepfercht fast lauter Passa-
giere mit III.-Classe-Billet. Nach Abfahrt von der Station Baden
bemerken wir, dass der Waggon nicht beleuchtet ist. In Mödling
wird uns auf unser Ersuchen um Licht überhaupt nicht geantwortet.
In Liesing verspricht man uns von Meidling an, der letzten Station vor
Wien, Licht. Dialoge in Meidling: Der Conducteur: ‚Es geht nicht,
es is brochen!‘ Ein Passagier: ‚So geben Sie doch Ihre Laterne in
das Coupé!‘ Der Stationsbeamte: ‚Steigen S’ aus, wenn S’ Ihnen
net passt!‘ Der Passagier: ‚Ja, wohin steigen, es ist ja kein Platz!‘
Der Beamte: ‚Nehmen S’ Ihna an Extrazug!‘ … « Ein beständiges
Aergernis bilden auch die Zugsverspätungen auf der Südbahn, die
klipp und klar beweisen, dass die von dieser Actiengesellschaft
ausgegebene »Fahrordnung« keinen anderen Zweck hat, als den,
durch ihre Einschaltung die Zeitungen zu bestechen und die
Oeffentlichkeit über den pünktlichen Abgang der Pauschalien aus den
Bureaux der Südbahngesellschaft und deren pünktliche Ankunft in den
Administrationen der Tagesblätter zu informieren. Der geregelte Verkehr
zwischen dem Verwaltungsrath und den Journalen kann indes doch
nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Verkehr auf der Bahnstrecke
täglich den fatalsten Unregelmäßigkeiten ausgesetzt ist, und die schönsten
Inserate vermögen das Publicum nicht mehr über die Entgleisungen,
Zusammenstösse und Tödtungen von Bediensteten zu beruhigen,
die namentlich in den letzten Wochen wieder das Einerlei der
Südbahnärgernisse unterbrochen haben …
Oder auch das:
Ist es der Generaldirection der Staatseisenbahnge-
sellschaft bekannt, dass die Bahnmeister wegen Material-
mangels gezwungen sind, bei schadhaft gewordenen
Schienen nur den beanständeten Theil der Schiene
zu entfernen und durch ein neues Schienenstück zu
ersetzen? Wissen die Herren vielleicht, dass dieses
»Anstückeln« Achsen- und Federnbrüche sowie Ent-
gleisungen zur Folge haben kann? Ist es der k. k. General-
inspection der österreichischen Eisenbahnen, der doch
die staatliche Controle über die Privatbahnen obliegt,
bekannt, dass auf der Strecke Wien–Brünn (Section 1)
»angestückelt« wird und dass das Geleise auf halb-
verfaulten und schlecht gebetteten Holzschwellen ruht?
Weiß diese Behörde, dass täglich neue Meldungen
von Maschinführern und Bahnmeistern über den ge-
fährlichen Zustand der bezeichneten Strecke einlaufen,
ohne dass die Gesellschaft darangeht, dem Oberbau
jene Sorgfalt zuzuwenden, auf die das reisende
Publicum – das müssen auch die Beschützer des
Herrn Taussig zugeben – immerhin einen gewissen
Anspruch hat? Pflicht der k. k. Generalinspection wäre
es, die Staatseisenbahngesellschaft dazu zu zwingen.
Oder werden bei uns wieder einmal erst dann »Er-
hebungen gepflogen«, wenn eine Katastrophe einge-
treten ist, wenn, wie an den Ehrentagen der Südbahn,
das Blut der Opfer solch verbrecherischen Leichtsinns
zum Himmel schreit? Oder kennen vielleicht die Herren
Inspectionsbeamten des Eisenbahnministeriums den ver-
wahrlosten Zustand der Strecke Wien–Brünn nicht? Es
muss wohl so sein. Die Herren fahren I. Classe von Wien
nach Bodenbach, unterbrechen die Fahrt meist nur zum
Zwecke des Uebernachtens, nehmen vielleicht ab und
zu an einer Commission theil, deren hauptsächlichste
Aufgabe es ist, gut zu frühstücken und zwei bis drei
Streckenchefs »anzuhören«, kehren dann befriedigt nach
Wien zurück, reichen ein Reiseparticulare ein und nennen
das eine Inspectionsfahrt. Sonst kann, wenn einer
eine Reise thut, er immerhin »was erzählen«; an einer
Inspectionsreise wird das Sprichwort zu Schanden.
Passiert dann zum höchsten Erstaunen der Herren
einmal etwas, so muss irgend ein armer Weichen-
wächter die Sünden der Taussig und Consorten büßen.
Also weniger Rücksicht für diese Leute, Herr
v. Wittek, und etwas mehr für Ihre capitalistenfeindliche
Vergangenheit! Machen Sie sich doch einmal den Spass,
unangesagt die Strecke Wien–Wolkersdorf zu inspicieren
– bis Bodenbach wollen wir Sie gar nicht bemühen –,
stechen Sie versuchsweise – etwa bei Gerasdorf, wo
zum Zeichen der Thätigkeit der technischen Section
zwischen den Schienen bereits Unkraut fast so üppig
wie Herr Taussig wuchert – mit Ihrem Spazierstock
in eine der Schwellen, und Sie werden die Erkenntnis
gewinnen, dass sowohl auf der Strecke wie im Ver-
waltungsrathe der Staatseisenbahngesellschaft manches
faul und dass es wieder einmal höchste Zeit ist, den
Nutznießern der Privatbahnen energisch auf die morsche
Schwelle ihres Gewissens zu treten ...
Gruß, k.